„Von Herzen, aus Idlib“

Rede

Zur Eröffnung der Ausstellung „Von Herzen, aus Idlib“, die die Heinrich-Böll-Stiftung vom 21. November bis 13. Dezember in Berlin zeigt. Die Ausstellung basiert auf dem bewegenden Fototagebuch des syrischen Fotografen Tim Alsiofi. Der Fotoband zeigt Momentaufnahmen und Geschichten aus dem zerstörten Syrien. In außergewöhnlichen Bildern zeigt Tim Alsiofi nicht nur die Grauen des Krieges, Zerstörung und Tod. Die eindrücklichen Fotografien und Texte erzählen ebenso von der Schönheit und der Freude am Leben.

Titelbild Idlib Ausstellung

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr verehrte Gäste,

ich heiße Sie und Euch herzlich willkommen zur Eröffnung unserer Ausstellung „Von Herzen, aus Idlib“.

Es freut mich außerordentlich, dass wir dieses wunderbare Projekt heute und hier in Berlin einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen können. Es ist Hoffnung inmitten von Krieg, Elend und Trauer.

Unlängst hat der erneute Einmarsch der Türkei in Nordost-Syrien uns wieder vor Augen geführt, dass der Krieg in Syrien noch lange nicht zu Ende ist.

Über 180.000 Menschen wurden im bis dahin weitgehend von militärischen Auseinandersetzungen verschont gebliebenen Nordosten Syriens vertrieben. Die zwischen der Türkei und Russland ausgehandelte Waffenruhe ist brüchig und bedeutet lediglich eine Zäsur im Konflikt, keine auch nur teilweise Befriedung.

Egal, wo wir in Syrien hinschauen: Das Schicksal der kurdischen wie auch der arabischen Geflüchteten, die der türkische Präsident Erdogan  nach Nordostsyrien ausweisen möchte, erfüllt uns mit Sorge.

Doch über den Entwicklungen im Nordosten sollten wir nicht vergessen, dass auch im Nordwesten Syriens der Krieg unvermittelt weitergeht.

Im Windschatten der türkischen Offensive gegen die Kurden hat das syrische Regime in Idlib seine täglichen Angriffe noch einmal intensiviert.

In der Provinz Idlib leben zwei bis drei Millionen Menschen, die Hälfte von ihnen Geflüchtete aus anderen Landesteilen.

Einer von ihnen ist Tim Alsiofi, der junge Fotograf, dessen Bilder wir heute ausstellen. Tim war 17 Jahre alt, als der Krieg begann. Fünf Jahre hat er unter der gnadenlosen Belagerung des Umlands von Damaskus, der Ghuta gelebt.

Als dieses Gebiet 2017 wieder vom syrischen Regime eingenommen wurde, wurde Tim nach Idlib deportiert. Unsere Mitarbeitenden des Büros in Beirut hatten viel Kontakt mit Tim, insbesondere in den letzten Tagen von Ghuta, als er, wie viele andere Aktivist/innen, dringend darum bat, alles für ein Ende der Bombardements zu tun – vergebens.

Wir haben mit ihm gebangt.  Gehofft, dass er überlebt und sicher nach Idlib kommt. „Kannst du für uns das Leben in Idlib dokumentieren?“, haben wir ihn gefragt.

Wir hatten keine Vorstellung davon, wie es dort aussah, wie Zivilist/innen hier lebten. Es dauerte kaum zwei Wochen, da schickte Tim uns Fotos wie wir sie schon lange nicht mehr aus Syrien gesehen hatten: Fotos, die vor Leben und Farbe nur so strotzten. Fotos, auf denen Menschen das tun, was normal sein sollte und was durch den Krieg zur Ausnahme geworden ist: Frauen und Männer, die das Land bestellen, die sich im Freien bewegen, die kaufen und verkaufen. Kinder die zur Schule gehen. Kinder, die spielen.

Wir wollten wissen, wer die Menschen auf den Bildern sind. Tim schrieb sie für uns auf. Islamisten nahmen ihm den Computer weg, zerstörten seine Ausrüstung. Letztlich hat er die Texte als Sprachnachrichten geschickt, und der syrische Rapper und Schriftsteller Hani al-Sawah hat sie auf Arabisch aufgeschrieben, unsere Mitarbeiterin Nadine Elali auf Englisch. Günther Orth hat sie aus dem Arabischen ins Deutsche übertragen.

Für Tim war das mehr als ein Projekt, es war ein Lebensanker.

 „In all der Zeit habe ich nur Tod und Zerstörung dokumentiert. Es ist das erste Mal, dass mich jemand bittet, das Leben zu fotografieren.“

Je mehr wir lasen, desto bedrückender wurde es. Viele der Abgebildeten hatten Fürchterliches durchlebt. Hinter den strahlenden Aufnahmen aus Idlib tauchten die düsteren Schatten der Vergangenheit auf. Manche hatten es nie hierhin geschafft. Wie die beiden Mädchen, die auf einer Aufnahme aus Ghuta im Tageslicht blinzeln.Ihr ganzes kleines Leben haben sie in der Dunkelheit des Bunkers verbracht, denn Sonnenschein heißt: Es wird bombardiert. Sie haben letztlich mit ihrem Leben dafür bezahlt, sich im Freien aufgehalten zu haben.

Einige derer, die nach Idlib gelangt waren, ertrugen es nicht, Familienangehörige zurückgelassen zu haben und kehrten um.

Bei ihren Familien kamen sie nie wieder an.  

Als die Situation in Idlib sich zuspitzte, die extremistischen Milizen von HTS (früher al-Nusra) immer stärker wurden und die syrische und russische Luftwaffe sich daranmachten, auch die letzte der von Russland trügerisch als „Deeskalationszonen“ ausgewiesenen Gebiete dem Erdboden gleich zu machen, versuchte Tim, zu fliehen. Doch die Türkei hält die Grenze geschlossen. Türkische Soldaten schießen auf diejenigen, die zu fliehen versuchen. Erst kürzlich und unter Inkaufnahme großer Gefahr haben Tim und seine Frau es in die Türkei geschafft, wo ihr Status jedoch nicht gesichert ist. Deswegen kann Tim heute nicht bei uns sein.

Mit dem Buch „Von Herzen, aus Idlib“ bringt Tim uns auf eindringliche Art und Weise nahe, was es heißt, in beständiger Unsicherheit und Bedrohung zu leben.

Wir haben dort hinten ein Tuch aufgespannt. Wenn Sie, wenn ihr eine Botschaft der Solidarität habt, schreibt sie nieder. Wir werden ihm dieses Tuch schicken.

Denn, wie Tim es in einer seiner verzweifelsten Bitten, die Bombardierung Ghutas zu stoppen sagte: „Wir wissen, dass nur ein Wunder uns retten kann. Aber wenn wir die Hoffnung nicht verlieren, dann könnt ihr das auch nicht.“

Als Heinrich-Böll-Stiftung tun wir unser Möglichstes, damit die Verbrechen in Syrien nicht ungestraft bleiben. Gemeinsam mit Adopt a Revolution und dem ECCHR arbeiten wir seit Jahren daran, dass syrische Stimmen hier Gehör finden und werden das auch in Zukunft tun.

Solidarität mit Überlebenden und Opfern ist das Mindeste, das wir leisten können.  Insbesondere in Zeiten, in denen Verschwörungstheoretiker und Populisten weltweit alles daransetzen, von Verfolgung bedrohten auch noch das Letzte zu nehmen: ihre Würde und die Möglichkeit, über das erlittene Unrecht zu sprechen. Sie verhöhnen Augenzeugen und Überlebende, in dem sie ihr Leid in Zweifel ziehen. Es mag so sein, dass man nicht alles wissen kann. Keine Entschuldigung gibt es dafür, nicht wahrhaben zu wollen, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden.

Titelbild Idlib Ausstellung

»Von Herzen, aus Idlib«

Ausstellung  (deutsch/arabisch) auf der Beletage der Stiftung, Eintritt frei
21. November – 13. Dezember, Mo.–Fr.: 8.00 – 20.00 Uhr
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin

Grundlage für die Ausstellung ist das bewegende Fototagebuch
des syrischen Fotografen Tim Alsiofi. Der Fotoband zeigt Momentaufnahmen
und Geschichten aus dem zerstörten Syrien. In außergewöhnlichen
Bildern zeigt Tim Alsiofi nicht nur die Grauen des Krieges, Zerstörung und
Tod. Die eindrücklichen Fotografien und Texte erzählen ebenso von der
Schönheit und der Freude am Leben. Die Texte zur Ausstellung wurden von
Hani Al Sawah verfasst, syrischer Rapper und Schriftsteller.

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